Medea. Stimmen – szenische Lesung im Staatsschauspiel Dresden

Medea ist allein auf der Bühne. Auf der Bühne, die abwechselnd die Zelle ist, in der sie auf ihr Urteil wartet, und Korinth, ihr neuer Lebensraum nach der Flucht aus Kolchis. Medeas Freiräume in Korinth verengen sich im Laufe des Abends durch die Verwicklungen mit den anderen Figuren, sodass beide Räume, die Gefängniszelle und die Stadt Korinth, zum Ende hin verschmelzen. Das Bühnenbild gibt sich nicht die Mühe, den Schein zu wahren, der Tisch und der Stuhl sind Theatertisch und Theaterstuhl. Dunkel, funktional, mit Katschen und Kratzern überall. Die feindlichen Mächte und ihre Diener wirken im Verborgenen gegen Medea, treten nur als Record über Lautsprecher in Erscheinung. Die Entscheidung, Medea von den anderen Stimmen zu trennen und einzig sie als Körper auftreten zu lassen, hat in dieser Inszenierung weitreichende Folgen: Die Fronten sind von Anfang an viel klarer als im Roman. Für den Zuschauer ist es so weit weniger überlebenswichtig, die Stimmen zu bewerten und sich selbst zu ihnen zu positionieren. Im Roman dagegen sind die Grenzen viel weniger hart:

Zum erstenmal fand ich Trost darin, daß ich nicht immer leben muß. Da konnte ich diesen aus Angst geborenen Glauben loslassen; richtiger, er stieß mich ab.
Ich habe noch niemanden getroffen, mit dem ich darüber sprechen könnte. Hier fand ich einen, der glaubt so wenig wie ich: Akamas, aber der steht auf der anderen Seite. (Christa Wolf; Medea. Stimmen; 4. Stimme; Luchterhand Literaturverlag; 1996)

In diesem Zitat entlarvt Medea den Glauben als Herrschaft erhaltendes Mittel. Letztbegründet ist dieser Glaube sowohl in Korinth als auch in Kolchis mit dem Opfer eines Kindes. Sobald Medea diesen verneint, verschieben sich die Bedeutungen vom Umgang mit Verstorbenen und besonders vom Opferkult: Aus einem kulturell begründeten Opfer wird Kindsmord.

Mal liest Medea am Tisch sitzend vor, mal stellt sie szenisch dar – so wird in der wechselnden Vortragsweise das Problemfeld von Mythos, Tradition und Geschichtsschreibung aufgespannt. Der Tisch ist mit einem Mikrofon versehen und bis zur letzten Reihe hört man verstärkt das Rascheln der losen Seiten, von denen vorgelesen wird – so wichtig wird das Material genommen. Wie geht es zusammen, dass Christa Wolfs Medea sich vom Glaube ans Schicksal abwendet, sie hier aber als Überliefernde sich um ihren Fortbestand bemüht?

Auch bezüglich der gelesenen Textstellen kommt die Inszenierung im Vergleich zur Vorlage stark vereinfacht daher und legt den Fokus auf Flucht und Fremdenfeindlichkeit. Dresdens Theater zeigt damit ein weiteres erfreuliches Gegengewicht zu Pegida.

http://www.staatsschauspiel-dresden.de/spielplan/medea_stimmen/termine/

 

David

 

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