Alexanderplatz

Berlin Alexanderplatz Oder die Tapferkeit des Herzens

 © Wikimedia Commons - Alexanderplatz 1900; Von Unbekannt - Alexanderplatz – Ein Ort deutscher Geschichte. Parkland Verlag Stuttgart, 1980. ISBN 3-88059-602-6

Berlin Alexanderplatz, 2009. CC 3.0

Seit dem frühen 18. Jahrhundert ist der Alexanderplatz, benannt nach dem russischen Zaren Alexander I. (1777 – 1825), zentraler Handels- und Verkehrsknotenpunkt der Stadt Berlin. Durch Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz (1929) und Walter Ruttmanns Berlin – Sinfonie einer Großstadt (1927) zum bedeutenden kulturellen Platz Berlins in den Zwanziger Jahren deklariert, wurden seine umliegenden Gebäude in der Schlacht um Berlin am Ende des Zweiten Weltkriegs fast vollständig zerstört.

In den Nachkriegsjahren von Enttrümmerung und Schwarzmarkt dominiert, gelangte der Platz erst mit dem Aufbaugesetz – Grundsätzen für die Neugestaltung der Ost-Berliner Innenstadt – vom 23. August 1950 wieder zu seinem alten Glanz zurück. Auch die Fertigstellung des Fernsehturms trug zur Wiederaufwertung des zentralen Platzes im Ostteil Berlins bei.

Durch diese Zentralität wurde der Alexanderplatz schnell ein Ort nationaler Großereignisse der DDR. So wurden die alljährlichen Jubiläumsfeierlichkeiten des DDR-Staates, sowie zahlreiche Gedenk- und Jugendtage auf dem Alexanderplatz zelebriert.

An diesem öffentlichen Verkehrsknotenpunkt Ostberlins wird die Schriftstellerin Christa Wolf wohl häufiger in ihrem alltäglichen Leben vorbeigekommen sein. Sie beschreibt ihn nicht nur in Ein Tag im Jahr oder der Erzählung Selbstversuch. Dieser Platz hat eine ganz besondere Bedeutung für die Schriftstellerin Christa Wolf.

ADN-ZB Link 4.11.1989 Berlin: Demonstration 500.000 Bürger beteiligten sich an einer Demonstration für den Inhalt der Artikel 27 und 28, der Verfassung der DDR. Auf dem anschließenden Meeting auf dem Alexanderplatz, ergriff auch die Schriftstellerin Christa Wolf das Wort.

Christa Wolf während der Rede auf dem Alexanderplatz, 4.11.1989. Bundesarchiv, Bild 183-1989-1104-060 / Link, Hubert / CC-BY-SA 3.0

Am 4. November 1989 machten sich tausende Ostberliner Menschen auf den Weg, um für Presse, Demonstrations- und Reisefreiheit und gegen Gewalt zu demonstrieren. Die Abschlusskundgebung dieser „friedlichen Millionendemonstration“ fand auf dem Alexanderplatz statt. Unter den Rednern, die auf dieser Kundgebung sprechen sprachen, befand sich neben Heiner Müller, Gregor Gysi und Jan Josef Liefers auch die Schriftstellerin Christa Wolf. Sie wurde von den Veranstaltern gebeten, eine Ansprache zum Thema „Sprache der Wende“ zu halten. Dazu sammelte die Autorin die Sprüche, die auf den Transparenten der Demonstranten standen: »Vorschlag für den ersten Mai – die Führung zieht am Volk vorbei!«, »KEINE GEWALT« oder »WIR sind das VOLK!«.

Um eine provozierende Wirkung ihrer Rede auszuschließen, feilte Christa Wolf bis tief in die vorangegangene Nacht an ihrem Text. Die Schriftstellerin möchte nicht provozieren, die Lage noch mehr anheizen, sondern spricht sich für Zusammengehörigkeit, Zusammenhalt und Gewaltlosigkeit aus. In der hitzigen Situation einen kühlen Kopf zu bewahren und als DDR-Bürger zusammenzuhalten, dafür plädiert Christa Wolf an diesem 4. November auf dem Podium am Alexanderplatz vor tausenden von Menschen. Keiner wusste, ob es nicht doch eine „Chinesische Lösung“ geben würde und die Volkspolizei die ganze Demonstration unter Beschuss nehmen würde. Aber nein – die Demonstration blieb „friedlich“ und gewaltlos.

Niemand unter den Zuhörer merkte der Rednerin an, dass ihr Herz mehr als nur flatterte. Ihr Puls raste vor Aufregung. Als Christa Wolf an diesem Tag das Rednerpodium mit dem Satz „Wir sind das Volk“ verließ, erlitt die Schriftstellerin hinter der Bühne einen Herzanfall.

„An jenem 4. November […], ein Tag für Hochgefühl, überfiel mich mitten in meiner Rede vor den Hunderttausenden, die auf dem Platz standen, meine wohlbekannte Herzrhythmusstörung, welche die Ärzte partout nicht mit psychischen Erlebnissen in Zusammenhang bringen wollten, und ich musste mit einer der am Rand der Demonstration bereitgestellten Ambulanzen in die nächste Klinik gebracht werden, in der alles vorbereitet war für die Aufnahme vieler Patienten. Ich aber war die erste und einzige, die eingeliefert wurde, und ich traf auf ein Team von Ärzten und Schwestern, die mich für eine Erscheinung hielten, weil sie mich eben noch quicklebendig auf dem Bildschirm gesehen hatten. So lag ich den Rest der Veranstaltung auf einer Liege in einer Notaufnahme und wartete die Wirkung einer Spritze ab.“ (Christa Wolf: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud.Berlin 2010. S. 25).

Für Christa Wolf war der Alexanderplatz nicht nur alltäglicher Verkehrsknotenpunkt, sondern vor allem ein Ort des Hochgefühls und der Tapferkeit ihres eigenen Herzens.

Quellen:

  • Christa Wolf: Sprache der Wende. In: Christa Wolf Werke. Band 12 Essays, Gespräche, Reden, Briefe 1987 -2000. Hrsg. von Sonja Hilzinger. München 2001. S. 182-184.
  • Christa Wolf: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud.Berlin 2010.
  • Jörg Magenau: Christa Wolf. Eine Biographie. Hamburg 2013. S. 381-400.