Von 1976 bis 1988 wohnten die Wolfs in der Friedrichstraße 133, gegenüber dem später neu erbauten und einige Meter umgezogenen Friedrichstadt-Palast, der im Zweiten Weltkrieg zerstört worden war.
Christa Wolf schildert ihr Unbehagen in der Wohnung nach einem Einbruch durch Stasi-Mitarbeiter und die fortdauernde Überwachung mehrmals in den tagebuchartigen Protokollen aus „Ein Tag im Jahr“ und schließlich in „Was bleibt“ fiktionalisiert und dennoch realitätsnah.
In „Christa Wolf. Eine Biografie in Bildern und Texten.“ (München 2004, Hg.: Peter Böthig) findet man etliche Fotos aus dieser Zeit, die in der Wohnung aufgenommen wurden. Von eben diesen – sehr glücklich wirkenden – Bildern könnte man nie auf eine derart belastende Lebenssituation schließen, die auch starke psychische Folgen für die Autorin hatte.
„ […] [H]ier in der Friedrichstraße wollen wir nun nicht mehr bleiben. Immer sehe ich die Abgaswolken vor meinem Fenster aufsteigen, und im Innern denke ich: Ich will überhaupt nicht hierbleiben.“ – ein Zitat, das für sich steht, 1983, also ganze fünf Jahre, bevor die Wolfs nach Pankow zogen, aus der überwachten Wohnung, in der sie sich am Telefon belauscht fühlten und bei Gesprächen in der Wohnung manchmal den Stecker zogen, alle Räume außer die Küche für Gespräche mieden und mit Blick auf den gegenüber liegenden Parkplatz das Auto der Stasi-Mitarbeiter sehen konnten. Auch der andauernde Bauzustand um das Haus herum scheint die Lebensqualität (nicht nur in der Wohnung) beeinträchtigt zu haben.
Viele Gespräche fanden, wie eben erwähnt, in der Küche der Wolfs statt. So wird etwa das Gespräch mit Uta Birnbaum und Stefan Schütz, der den Wolfs kurz vor der Ausreise in den Westen im Jahr 1988 noch ein Manuskript übergab, vermerkt. Die Küche fungiert also als Ort von Absprachen und gegenseitiger Unterstützung in Extremsituationen. Daran erinnert sich Christa Wolf im Jahr 2000. Ähnliche Szenen findet man z.B. in „Secondhand-Zeit“ (2013) der Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch.
Die Wohnung in der Friedrichstraße ist für Wolf also zu einem der ereignisreichsten Orte geworden, der sich in Anekdoten in den Tagebucheinträgen sowie fiktionalisiert in den Romanen und Erzählungen der Autorin widerspiegelt.
„Leibhaftig“ (2002) ist zum Großteil in der Wohnung an der Friedrichstraße angesiedelt. Dort wird aus der Erzählerin im Traumzustand ein junger Mann, der sich am Sims vor der Wohnung entlanghangelt und „über dem tosenden Verkehr der Friedrichstraße häng[t]“.
Die Ich-Erzählerin kehrt in ihren halluzinatorischen Stadien einer Erkrankung also dennoch wieder zu ihrer Wohnung zurück, in der und um die herum die Bespitzelung am stärksten war. Man könnte diese Stelle wie auch die gesamte Erzählung als Tanz zwischen Tod und Leben, als Selbstbehauptung in einer Lebenskrise lesen. Krise: Ein abgenutztes Wort, das hier aber im buchstäblichen Sinn zutrifft, für das im Werk die Wohnung in der Friedrichstraße zum erschreckenden Haupt-Schauplatz wurde.
Quellen:
- Christa Wolf: Ein Tag im Jahr. Frankfurt a.M. 2008, S. 246ff., 356ff., 380f., 670f.
- Christa Wolf: Leibhaftig. München 2002.