Unter den Linden – „Unter den Linden bin ich immer gerne gegangen“
„Unter den Linden bin ich immer gerne gegangen. Am liebsten, du weißt es, allein.“ – Diese zwei Sätze bilden den Rahmen zu Christa Wolfs 1974 erschienener Erzählung „Unter den Linden“, eine fantastische Traumreise über Ost-Berlins Prachtboulevard und durch seine Gebäude.
An einem heißen Juninachmittag lässt die Autorin ein weibliches Erzähl-Ich im Traum von der Bushaltestelle an zahlreichen realen Orten vorbei wandeln, die sowohl Berlinern als auch Touristen auch heute – teils aus Erinnerung, teils noch existent – wohlbekannt sind. Es geht vorbei an den Denkmälern von Alexander und Wilhelm von Humboldt hinein in die Universität, von dort in den Innenhof der Staatsbibliothek und auch in deren Räumlichkeiten, vorbei an Schaufenstern zu einem Zwischenstopp auf einen Stuhl auf der Mittelpromenade, dann die Sowjetische Botschaft und ein Antiquariat passierend in einen Spirituosenladen, schließlich hinein in ein Café im Lindencorso.
Auf dem Weg begegnet die Erzählerin nicht nur alten Freunden, manche davon eigentlich schon verstorben, sondern auch einem goldenen Fisch, der sie eine Weile begleitet und, am Wichtigsten, sich selbst. Schon „immer hatte [sie] geahnt, daß diese Straße in die Tiefe führt“ und so bemerkt sie beim Erwachen, dass der Traum die Funktion hatte, sich wiederzufinden und von geschehenem Unglück zu befreien.
Beim Lesen lässt man sich, wie das Erzähl-Ich, fast „täuschen, glaub[t] auf wirklichen Pflastersteinen, unter wirklichen Linden zu gehen“. Glücklicherweise kann man sich in Berlin einfach in die U-Bahn setzen und diese Traumreise auch in Wirklichkeit erleben. Man wundere sich nur nicht, wenn man dabei Unter den Linden einen sprechenden, goldenen Fisch trifft.
Quelle:
- Christa Wolf: Unter den Linden. In: Die Lust, gekannt zu sein. Erzählungen 1960-1980. Frankfurt a. M. 2008.